Gehirngerechter Umgang mit Prüfungsstress – Teil 1

Viele Trainer sehen sich bei Zertifizierungsseminaren den Prüfungsängsten und -sorgen ihrer Seminarteilnehmer ausgesetzt. Doch was passiert neuropsychologisch im Gehirn der Prüfungsteilnehmer? Das Wissen um die Entstehung von Prüfungsstress ist der erste Schritt zur Entwicklung wirksamer Gegenmaßnahmen.

Herzlich willkommen zur Abschlussprüfung! Bevor Sie die Prüfungsbögen umdrehen, schlucken Sie die grüne Pille, die auf Ihrem Tisch liegt. Sie ist weitgehend nebenwirkungsfrei und wird Sie in einen hellwachen und hoch konzentrierten Zustand versetzen. Vor allem aber wird sie jegliche Prüfungsangst eliminieren!

Gesetzt den Fall, dieses Zukunftsszenario wäre – pharmakologisch und juristisch – jemals möglich: Würden Sie Ihren Teilnehmern diese Pille empfehlen?

Einiges spräche dafür. Denn während der Adrenalin-Schub in der Prüfung eine normale und leistungsfördernde Aktivierungsreaktion des Körpers darstellt, kann Prüfungsangst zum veritablen Leistungskiller werden. Auch bei entspannter Lernatmosphäre und optimaler Vorbereitung kann ein plötzlicher Blackout kompetenten Teilnehmern, die im Seminar alles wussten, den verdienten Erfolg vermasseln. Für andere ist schon der Lernprozess durch Erwartungsangst beeinträchtigt. Dies betrifft vor allem jene Teilnehmer, die eine Historie unguter Prüfungserlebnisse mit sich herumtragen und die schon beim Gedanken an die bevorstehende Prüfung ein konzentrationsminderndes Stresshormon-Level erreichen.

Prüfungsängste sind weit verbreitet – auch bei ISTQB®- oder IREB®-Zertifizierungen

Dass Prüfungsstress nicht nur eine leistungsschwache Minderheit betrifft, ist gut belegt. So sind nach einer aktuellen Erhebung von Statista über 55 Prozent aller deutschen Schüler vor jeder Prüfung nervös. Auch die psychologischen Hochschulambulanzen verzeichnen bei konstanter Häufigkeit anderer psychischer Probleme einen sprunghaften Anstieg der Prüfungsängste. Schuld, so vermuten Wissenschaftler der Universität Heidelberg, ist die stark verschulte, prüfungsorientierte Lernsituation seit der Bologna-Reform, die die Freiräume zur kreativen Vernetzung des erworbenen Wissens und für ein unterstützendes soziales Miteinander auf ein Minimum reduziert.

Die Teilnehmer von ISTQB®- oder IREB®-Zertifizierungsseminaren bilden wohl mit den Post-Bologna-Studierenden eine Schicksalsgemeinschaft, was die furchteinflößenden Rahmenbedingungen der Lernsituation anbelangt.

Firewalls gegen Gefahrensignale aus den Tiefen des Gehirns

Ist an den Rahmenbedingungen – zumindest vorerst – nicht viel veränderbar, so bleibt Trainern nur die eine Möglichkeit:  innerhalb des vorgegebenen Rahmens möglichst viele Firewalls gegen die Gefahrensignale zu errichten, die aus den evolutionsgeschichtlich uralten limbischen Regionen unseres Gehirns unsere Großhirnrinde überfluten. Diese äußere Rinde (Cortex), die wie eine Duschhaube das restliche Gehirn überzieht, gilt es, vor den gefürchteten limbischen Denial-of-Service-Attacken zu schützen. Denn der Cortex verarbeitet Prüfungsfragen kognitiv, gibt ihnen Sinn und Kontext und ruft erworbenes Wissen über den Hippocampus, den Organisator unseres expliziten Gedächtnisses, in Form von Antworten ab.

Doch leider gönnt uns die Evolution weit weniger Updates, als wir es von modernen Betriebssystemen gewohnt sind. So wird der Cortex ebenso wie der Hippocampus mit jeder Menge Sicherheitslücken und Bugs ausgeliefert. Vor allem sind beide extrem stressanfällig.

Signalisieren die Mandelkerne im limbischen System, das gegen rationales Denken weitgehend immun ist, eine drohende Gefahr, werden Noradrenalin und – bei erhöhtem Stressaufkommen – das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet. Beide bewirken einen Anstieg der Hirnstromfrequenzen. Steigen diese deutlich über 20 Hz, so geht die zuvor geordnete Aktivität im frontalen Cortex hinter der Stirn langsam in ein chaotisches Muster über.

Die Folge: Wir haben unsere sieben Sachen nicht mehr beisammen. Zu allem Überfluss fungiert unser Hippocampus im Nebenberuf noch als eine Art Thermostat für die Stresshormon-Konzentration. Bei hoher Cortisol-Anflutung fällt er dadurch für Abruf und Übermittlung von Gedächtnisinhalten an den Frontalcortex weitgehend aus. Zusammen ergibt dieses Schlamassel die Neurobiologie des stressbedingten Frontalhirndefizits, das von einer leichten Leistungsminderung bis hin zum totalen Blackout reichen kann.

Hier hilft nur eines: den Fuß möglichst früh auf den Wasserschlauch der Stress-Kaskade zu stellen. Denn kurz vor der Prüfung ist es erfahrungsgemäß meist zu spät. Praktische Anregungen, wie Sie als Trainer die Stress-Kaskade unterbrechen können, erhalten Sie in meinem Blogbeitrag »Gehirngerechter Umgang mit Prüfungsstress – Teil 2«.

Haben wir Ihr Interesse geweckt?

Weitere gehirngerechte Lernmethoden für IT- und Fachseminare lernen Sie in unserer Ausbildung zum Certified Professional Trainer kennen.

Dr. Franz Hütter

, München

Franz Hütter vermittelt Wissen zur Neurodidaktik anhand von lebendigen Beispielen aus der Business-Praxis vereint mit wissenschaftlichem Anspruch. Im Januar 2019 hat er einen Workshop zum Thema gehirngerechtes Lernen in Zertifizierungsseminaren mit dem Team der ISARTAL akademie durchgeführt.

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