Gehirngerechter Umgang mit Prüfungsstress – Teil 2

Viele Trainer sehen sich bei Zertifizierungsseminaren den Prüfungsängsten und -sorgen ihrer Seminarteilnehmer ausgesetzt. In meinem letzten Blogbeitrag haben Sie erfahren, was dabei neuropsychologisch im Gehirn der Prüfungsteilnehmer passiert. In diesem Beitrag erfahren Sie, wie Sie dieses Wissen als Trainer nutzen, um Teilnehmern den Umgang mit ihrem Stress zu erleichtern!

Der letzte Blogbeitrag »Gehirngerechter Umgang mit Prüfungsstress – Teil 1« mündete in die Frage: Wie stellen wir als Trainer frühzeitig den Fuß auf den Wasserschlauch der eskalierenden Stress-Kaskade? Eine Erkenntnis, die dabei besonders hilfreich ist: Der Hippocampus arbeitet hochgradig kontextsensitiv. So ist es für den Abruf von gelerntem Wissen hilfreich, wenn der Lernkontext bereits dem Abrufkontext – in unserem Fall der Prüfungssituation – so ähnlich wie möglich ist.

Gleiches gilt für die in der Prüfung erforderliche Emotionsregulation. Wer also Wiederholungen und Wissenssicherung über die Dauer des Seminars meist in einer entspannten Diskussions- und FAQ-Atmosphäre gestaltet, nimmt Teilnehmern die Chance, sich gegen die emotionale Belastung der Prüfungssituation beizeiten zu immunisieren. Wer dagegen – zum Beispiel im Zweistundentakt – das vermittelte Wissen im Rahmen einer Kurz-Prüfung mit einigen wenigen Fragen, aber unter Zeitdruck (z.B. mit einer Bearbeitungszeit von fünf Minuten) abfragt, erreicht gleich mehrere Effekte:

  • Die Prüfungssituation üben: Durch Habituierungslernen wird die Prüfungssituation zur Gewohnheit. Da Teilnehmer die Erfahrung machen, dass die Situation zu bewältigen ist, greift ein Wirkmechanismus, der aus der Verhaltenstherapie als systematische Desensibilisierung bekannt ist: Bei jedem Übungslauf wird die Situation vertrauter und weniger belastend.
  • Motivation statt Stress fördern: Da die abgefragten Inhalte gerade erst besprochen wurden, ist die Wahrscheinlichkeit von Erfolgserlebnissen entsprechend groß. Per operanter Konditionierung wird die Prüfungssituation damit leichter mit einem Belohnungsgefühl assoziiert. Das motiviert und verstärkt zugleich einen inneren Zustand, der mit eskalierenden Stressreaktionen inkompatibel ist.
  • Soziale Interaktion ermöglichen: Ermöglicht man vor der Präsentation der Musterlösung und der Beantwortung von Teilnehmerfragen eine kurze Besprechung der Ergebnisse in einer Kleingruppe oder mit dem Nachbarn, kommen die angstlösenden Effekte der sozialen Interaktion hinzu. Das Wissen der Teilnehmer ergänzt sich. Man macht die Erfahrung, mit Wissenslücken nicht alleine dazustehen, und nutzt vor allem die wohltuenden pharmakologischen Effekte des Bindungshormons Oxytocin. 

Die grüne Pille im Kopf

Oxytocin wäre wohl auch einer der Hauptbestandteile unserer eingangs erwähnten fiktionalen grünen Pille. Das Hormon spielt eine wichtige Rolle bei der Festigung von tiefen Bindungsbeziehungen, zum Beispiel zwischen Eltern und Kindern oder zwischen verliebten Paaren. Es wird nachweislich auch in kurzfristigen Arbeitsbeziehungen ausgeschüttet. Dies geschieht besonders dann, wenn wir vertrauensvoll kooperieren und auf einer Augenhöhe sind.

Deshalb ist das Lernen in der Peer-Gruppe, mit Menschen, die alle in einem Boot sitzen (zum Beispiel, weil sie die Prüfung bestehen wollen), besonders effektiv. Außerdem ist Oxytocin ein äußerst potentes, vom Körper selbst produziertes Psychopharmakon. Denn die vermehrte Oxytocin-Ausschüttung bewirkt über biochemische Regelkreise eine Steigerung des Dopamin-Spiegels und reduziert simultan die Produktionsrate des Stresshormons Cortisol. Damit steigt die Motivation bei gleichzeitig sinkendem Stress-Level – ein geradezu idealer Zustand für jede Prüfungssituation.

Fazit

Als Trainer sollten wir vielleicht weniger versuchen, unseren Teilnehmern ihre Angst vor der Prüfung zu nehmen. Hilfreicher kann es sein, sie immer wieder gezielt mit der Prüfungssituation zu konfrontieren und ihnen dabei zu helfen, sich im engen Kontakt mit ihren Mitstreitern hinlänglich gegen die Angst zu immunisieren. Denn die grüne Pille, die tragen sie schon in ihren Köpfen. Weisen wir ihnen den Weg!

Haben wir Ihr Interesse geweckt?

Weitere gehirngerechte Lernmethoden für IT- und Fachseminare lernen Sie in unserer Ausbildung zum Certified Professional Trainer kennen.

Dr. Franz Hütter

, München

Franz Hütter vermittelt Wissen zur Neurodidaktik anhand von lebendigen Beispielen aus der Business-Praxis vereint mit wissenschaftlichem Anspruch. Im Januar 2019 hat er einen Workshop zum Thema gehirngerechtes Lernen in Zertifizierungsseminaren mit dem Team der ISARTAL akademie durchgeführt.

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